Pyramiden, Gold und GötterREGION/LAND: Lateinamerika Archäologie – eine Wissenschaft der toten Steine? Nicht in Lateinamerika. Aber vielleicht muss man es erst mit eigenen Augen erlebt haben: Wenn geheimnisvolle Geräusche, vielleicht sogar das Röhren versteckter Brüllaffen, die Stille des Urwalds stören und sich dann plötzlich der Blick auf die Pyramiden der Mayastadt Tikal öffnet. Oder wenn eine alte Frau in Tracht mit ihrem geschmückten Lama vor der alten Inkamauer von Cuzco in Peru fürs Foto posiert und nichts mehr daran erinnert, dass die Zeiten der Inka längst vorbei sind. Oder wenn das Flugzeug über der Pampa von Nazca kreist und die berühmten Linien plötzlich auf dem Erdboden zu erkennen sind: der große Affe mit dem geringelten Schwanz, der Hund, die Spinne oder der Kolibri.
Ob Maya, Inka oder Nazca – die präkolumbischen Kulturen umgibt immer noch der höchst lebendige Zauber des Fremden, Unerklärlichen und Exotischen. Zu lange galten sie als „verloren“, zu spät wurden sie wieder entdeckt, zu jung sind noch die Erkenntnisse, die neben der Fachwelt auch den Laien faszinieren. Man denke nur an die Zerstörungen im religiösen und goldhungrigen Fieberwahn der Konquista, dann an die ersten Ausgrabungen Mitte des 19. Jahrhunderts – und schließlich an die jüngsten Entdeckungen. Allein in Peru fand man u. a. die Inka-Siedlung Qoriwayrachina (2001) – ein zweites Machu Picchu? –, die mittlerweile auf das sagenhafte Alter von 4600 Jahren datierte Stadt Caral bei Lima (1994), und das unbeschädigte Moche-Fürsten-Grab bei Chiclayo, des „Señor de Sipán“ (1987) – eine bis heute nachwirkende Weltsensation (2003 erhielt sie ihr Museum in Lambayeque). Und auch in der Mayawelt zwischen Palenque, Chichén Itzá und Copán reiht sich weiterhin eine Entdeckung an die andere.
Missachtung wandelte sich in ungläubiges Staunen, das sogar Außerirdische als Erklärung bemühte. Und das alles ereignete sich innerhalb von nur knapp 500 Jahren – ein Klacks im Spiegel der Menschheitsgeschichte. Wer heute vor den wieder ausgegrabenen Steinen, Stelen und Tempeln steht, spürt sie fast noch körperlich: die Präsenz ihrer magischen, von Mystik und Schamanismus durchdrungenen Zivilisationen. Zu allgegenwärtig sind sie auch noch im Brauchtum ihrer Nachfahren, z. B. in Guatemala, Peru und Bolivien. Längst ist sich die Fachwelt einig (schade, Herr von Däniken): Nicht Außerirdische schufen die Kulturen Lateinamerikas. Vielmehr erwuchsen sie ihrer ganz eigenen Geschichte. Einer ganz besonderen dazu. Denn anders als die meisten uns bekannten alten Kulturen entwickelten sie sich isoliert vom Rest der Welt. Keine Wasser oder Landwege verbanden sie mit anderen Hochkulturen; kein Babel, Theben, Troja oder Athen wies – wie etwa dem alten Europa – kulturelle Wege.
Im Gegensatz zur Alten Welt, die sich aus erblühenden und verdorrenden Hochkulturen rund um das Mittelmeer, aus Völkerwanderungen und dem Kulturaustausch auf weit verzweigten Handelswegen speiste, schmorten die alten Kulturen Amerikas von Anfang an bis zum bitteren abrupten Ende im eigenen Saft. Umso eindrucksvoller, was sie vollbrachten: Die alten Peruaner von Paracas gelten als die Meister der Textilkunst – um 500 vor unserer Zeit! In der Wüste haben sich die Mumienstoffe unwirklich gut erhalten, in die sie ihre magische Welt so genau verwebten, dass Wissenschaftler ihre Lebensweise rekonstruieren konnten. Die Inka kannten den Sonnenlauf aufs genaueste. Mittelamerikanische Völker verstanden es, den Venuszyklus mit atemberaubender Präzision computergenau zu bestimmen. Und die Maya benutzten lange vor den Arabern ein geniales Rechensystem. Sie erfanden die Null und schufen zudem eine hoch entwickelte Schrift, die Maya-Hieroglyphen. Die Geschichte ihrer Entzifferung ist ein spannendes Kapitel für sich – und längst noch nicht vollkommen beendet. Eisen war unbekannt. Bronze kannten die Menschen Altamerikas zwar, aber nutzten sie in erster Linie für simple Waffen und einfache Meißel. Ihr Material waren die Edelmetalle. Gold, Silber und sogar Platin wurden in den Andenländern schon vor 2000 Jahren mit
Meisterhaft meißelten die alten Amerikaner in Stein. Im kolumbianischen San Agustín schufen sie mächtige finstere Gestalten als Grabwächter eines vermutlich überregional genutzten Begräbnisfelds. In Copán (Honduras) verwandelten sie meterhohe Steinpfähle in über und über mit „sprechenden“ Hieroglyphen verzierte Stelen. Kaum ein Tempel oder Ballspielplatz, kaum eine Wand, kaum ein Gebäude in den Zeremonienzen-tren ohne kunstvolle Verzierungen, magische Symbole oder Götterbilder. Überhaupt die Städte und Zeremonienzentren.
Nicht nur, dass sie ausgeprägte hierarchische Ordnungen dokumentieren – sie zeugen auch von hoch entwickelter Baukunst. Zwar kannte man das Rad, aber nicht seine mechanische Nutzung! Kraftübersetzung mittels Rad und Achse (eine frühe Errungenschaft der Alten Welt), Flaschenzüge oder das Prinzip einer simplen Schubkarre kamen im präkolumbischen Amerika nie zur Anwendung. Warum? Das wird wohl für immer ein Rätsel bleiben... Zehntausende von Kilometern ausgebauter Inkastraßen, die mysteriöse Stadt Machu Picchu oder die Pyramiden, Tempel und Paläste Mexikos und der Mayawelt wie Teotihuacan und Tikal wurden mit einer geradezu lächerlich wirkenden Auswahl steinzeitlicher Werkzeuge erbaut.
Nur Menschenkraft bewegte Steine, Mörtel und Erdmassen. Pferde, Esel oder Rinder kannte man nicht. In Südamerika gab es zwar die „Andenkamele“ Alpaka und das größere Lama. Dies trägt aber nur bis zu maximal 35 kg Last. Ziemlich bescheiden, verglichen mit den Zentnergewichten, die ein indianischer Träger auch heute noch leichtfüßig über 5000 m hohe Andenpässe befördert. Zweifellos: Die präkolumbischen Kulturen suchen ihresgleichen auf der Welt und stehen als Zeugnis einer höchst individuellen Menschheitsgeschichte gleichberechtigt neben anderen Hochkulturen auf diesem Globus. Eine Erkenntnis, die auch Lateinamerikas junge multiethnische Nationen immer mehr mit Stolz – und seine Bürger mit neuem Selbstbewusstsein erfülltÎ.
Andreas M.Gross
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